Wie sich die Tögels in Amerikaner verwandeln
Oder: Der Weg von Krehwinkel nach Denver, dokumentiert in dem Buch "Briefe, die das Leben schrieb"
Rudersberg/Denver. Es ist ein weiter Weg von Krehwinkel nach Denver – viel länger als 15 oder 20 Flugstunden. Wer den Weg bis zu Ende gehen will, braucht Jahre. Die Tögels sind ihn gegangen. Von ihren Erfahrungen erzählt die Auswandererfamilie im soeben erschienenen Buch "Briefe, die das Leben schrieb".
Ende 1995 wandern Peter und Conni Tögel mit ihrer Tochter Jamie in die USA aus. Peter Tögel dokumentiert den Bruch und Neuanfang in einer Art Internet-Tagebuch, mit fast obsessiver Schreibwut, voller Witz und manchmal irritierend offen, wenn er zum Beispiel finanzielle Probleme ausbreitet. Das gesammelte Material der Jahre 1996 bis 1999 füllt 500 Seiten. Und obwohl darin so vieles geschrieben steht – zwischen den Zeilen steht noch mehr.
Es ist ein fremdes Land, dieses Amerika: Einkaufen geht man zwischen 19 und 22 Uhr. Das ist die beste (genauer: die einzig mögliche) Zeit für einen wie Tögel, der zehn Urlaubstage pro Jahr, maximal sechs bezahlte Krankheitstage und regelmäßig Sieben-Tage-Wochen hat. In einem einzigen Jahr häufen sich 600 Überstunden auf.
Die radikal durchkapitalisierte Wirtschaftslandschaft Amerika wird regiert von den Prinzipien Konsum und Werbung: Es gibt eine fast groteske Fülle von Sonderangeboten und Spezialermäßigungen, bis dem Verbraucher nicht mehr klar ist, ob es so etwas wie einen "normalen" Preis überhaupt noch gibt. Statt Sommer- und Winterschlussverkauf gibt es allein im Frühjahr einen Vorosterverkauf, Osterverkauf, Nachosterverkauf, sogar einen "No-Holiday-Sale". Auf den Kassenbelegen sind Ermäßigungsgutscheine für spezielle Produkte, man muss die Pampers-, die Coke-, die Ketchup-Verbilligungs-Zettel sammeln wie Briefmarken – "mit dem Unterschied, dass man seine Briefmarkensammlung nicht ständig mit sich herumschleppt".
Sogar der Pfarrer akquiriert Kundschaft: "Nachdem wir am letzten Sonntag in der Kirche waren, hat uns heute der Pastor persönlich auf unseren Anrufbeantworter erinnert, dass morgen wieder Sonntag ist."
All diese Alltagsbeobachtungen verfugen sich zu einem ungeheuer prägnanten Puzzlebild der USA. Die Tögels werden hineingezogen in dieses Leben: Man kommt und gehört dazu.
Im neuen Land eine Heimat des Herzens zu finden, dauert länger. Immer wieder stellt Tögel auf seiner Homepage Listen zusammen. In einer Liste mit Alltagsphänomenen tauchen "Telefone" auf, "die fast nie klingeln". Eine Vorher-Nachher-Liste vergleicht Deutschland und Amerika, vorderhand witzig, aber mit einem mitschwingenden Echo der Einsamkeit: "Grillpartnerqualität – vorher: gut. Jetzt: Null! Alles muss man selber machen…" Wie die Nachbarn zur Linken heißen, wissen die Tögels nicht. Ach die Nachbarn zur Rechten, "die schon seit 13 Jahren hier wohnen, wissen den Nachnahmen der Familie nicht".
Die Tögels haben auch mit ihrem eigenen Nachnamen Probleme: Weil die Amerikaner die Pünktchen auf dem o nicht kennen und weil Toegel nicht durchsetzungsfähig ist (Toe-gel bedeutet "Zehen-Schmalz"), heißen die Tögels fortan offiziell Togel – was manchen Leuten immer noch nicht amerikanisch genug ist: Sie schreiben "Toggle".
Das Tagebuch ließt sich in den ersten Jahren wie ein Anker, um die eigene Identität zu wahren und sich selbst inmitten der Anonymität der Fremde Halt und Gestalt zu geben: ein Mittel gegen die Einsamkeit.
Doch mit der Zeit wird die Internet-Seite der Tögels berühmt, oft aufgerufen, preisgekrönt im "Focus", Gegenstand von Zeitungsberichten. Jamie wird älter, zwei weitere Kinder werden geboren. Tögel nennt die "vier Schritte der Auswanderung: Humor, Hooneymoon, Hate, Home" – Humor, Flitterwochen, Hass, Heimat. "Ich befinde mich irgendwo zwischen der dritten und vierten Phase." Viele Fotografien zeigen Besucher im Hause Tögel: allesamt Verwandte und Freunde aus Deutschland. Irgendwann, im dritten oder vierten Jahr, tauchen die ersten Bilder von Kollegen und Bekannten aus Amerika auf. Der Wandel vollzieht sich allmählich, kaum merklich zu Anfang – doch am Ende des Buches ist er vollzogen. Tögel stellt eine Liste zusammen mit typisch deutschen Dingen, die es in Amerika nicht gibt und "die ich nicht vermisse": zum Beispiel "Naturschützer, die gegen den Autobahnausbau sind".
Und dann hält Peter Tögel ein Plädoyer für den American Way of Life, das auch Tom Cruise in den letzten zehn Minuten eines Hollywood-Films verkünden könnte: "Die Phantasie sollte groß sein, ein Nein sollte es eigentlich nicht geben, und wenn etwas einmal unmöglich ist, dann kann es möglich werden. Auch Europa könnte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten werden, es muss nur jeder mit ganzem Herzen dabei sein." Jeder kann es schaffen. Wer’s nicht schafft, ist selber Schuld. Die Tögels sind in Amerika angekommen.
"Briefe, die das Leben schrieb oder Der ganz normale Wahnsinn einer Auswandererfamilie" enthält einen Anhang mit vielen Tipps und Adressen für Auswanderer. Das Buch ist erschienen im Verlag Monsenstein und Vannerdat, ISBN 3-935363-17-6. Die Internet-Adresse der Tögels: www.togel.com
ZVW, Rems-Murr-Rundschau
Peter Schwarz